Buch

Leseprobe
"Besuch beim Philosophen"


Pünktlich um 16 Uhr klingelte ich an der Haustür. Es dauerte eine Weile, bis geöffnet wurde. Vor mir stand ein alter Mann, der sich auf einen Stock stützte. Das Sprechen viel ihm sichtlich schwer. Später erfuhr ich, dass er vor einiger Zeit einen  Schlaganfall erlitten hatte. Wir durchquerten das Wohnzimmer und gingen in sein daneben gelegenes Arbeitszimmer. An den Wänden hingen Aquarelle mit Naturmotiven. Auf dem Schreibtisch lagen scheinbar ungeordnet lauter Manuskripte und Bücher; teilweise auch auf dem Fußboden. Entschuldigend meinte er: Ich bin der Einzige, der sich in diesem Chaos zurechtfindet. Aber ich hasse es, wenn hier aufgeräumt wird. Dann finde ich gar nichts mehr wieder.

Je länger ich ihn anschaute, desto deutlicher erkannte ich einige Gesichtszüge wieder. Sein Gesicht war voller geworden, die Lippen schmaler und aus den etwas geröteten Augen blickte er mich aufmerksam an. Er fragte mich nach meinem Anliegen. Als ich erwähnte, dass ich hier am Ort ab 1968 Philosophie bei ihm studiert habe, merkte er auf. Er wollte wissen, welche Seminare am Philosophischen Institut ich damals besucht habe. Cusanus, Kant, Hegel, Heidegger, berichtete ich.

Ungewöhnlich, meinte er. Damals wollten doch alle Marx, Freud, Adorno oder Marcuse studieren. Dann wollte er wissen, ob ich Seminare von ihm besucht hätte. Ich hätte gern, aber die waren stets überfüllt, vor allem mit älteren Semestern. Mir blieben nur Ihre Vorlesungen. Auf sie hatte mich einer Ihrer Assistenten hingewiesen. Ich fand das ganze damit verbundene Ritual faszinierend, obwohl damals viele Studenten forderten, die Vorlesungen abzuschaffen und stattdessen zu diskutieren. Ich blieb stets ein Anhänger von Vorlesungen. Im Gegensatz zu Diskussionen, die sich oft in Details oder Nebenaspekten verloren, waren Vorlesungen strukturierter, und man konnte den Ausführungen besser folgen.



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